Freitag, 9. Januar 2015

Geschichte von Garuda und dem kleinen Vogel

Wie angekündigt folgen nach und nach die wesentlichen Teile des Satsangs mit Swami Kuru während der Silvesterfeierlichkeiten im Sri Kamala Netra Krishna Tempel.

Während Swami Kuru die neue Vishwaswarupa Murti erläuterte, kam er über die Darstellung von Garuda in dieser Murti zur Frage: gibt es einen freien Willen oder nicht? Um diese Frage zu beantworten, nahm er Ausführungen von Dr. Sathyanarayanan Das, einem Professor für Vedische Wissenschaften aus Brindavan, mit dem Guruji freundschaftlich sehr verbunden ist, zu Hilfe.

Dr. Sathyanarayanan Das erklärte während eines Workshops, den er vor einiger Zeit in Springen gegeben hatte, dass es zwei Wege gibt – den Weg des Karma Yoga (Karma Marga = Weg der Handlung) und den Weg des Bhakti Yoga (Bhakti Marga = Weg der Hingabe). Die meisten Menschen in der Welt befinden sich auf dem Karma Yoga Weg, denn sie sind mehrheitlich getrieben von ihren Wünschen, Begierden und Anhaftungen. Sie denken, sie wären frei, aber in Tat und Wahrheit sind sie gefangen in den Programmen, die sie mit ihren Gedanken und Wünschen aufgebaut haben, und treffen dementsprechend alle ihre Entscheidungen. Sie unterliegen also einer Illusion von Freiheit.
In dem Moment, in dem man jedoch beginnt, sich Gott zuzuwenden, beginnt der Weg der Hingabe (Bhakti) und desto mehr kommt der freie Wille, nämlich der Wille Gottes. Denn der einzige, der wahrhaft einen freien Willen hat, ist Gott. Er ist absolut frei. Je mehr wir uns mit Ihm verbinden und uns Ihm zuwenden, umso mehr lässt Er uns teilhaben an dieser Freiheit. Je mehr der seelische Aspekt in uns genährt wird, desto mehr können wir von einem echten freien Willen sprechen. Zudem stehen wir in einer Liebesbeziehung zu Gott, und Liebe ohne freien Willen, ist keine wahrhafte Liebe.

Auch Guruji spricht immer wieder davon, dass es stets beides ist; dass wir Menschen einen freien Willen haben und gleichzeitig nicht. Dieses Paradoxon veranschaulichte Swami Kuru mit folgender Geschichte:


Eines Tages kam Lord Vishnu zu Besuch zu Lord Shiva. Vishnu war mit Seinem Reittier Garuda gekommen, der jedoch draussen warten musste, während Vishnu Shiva Seine Aufwartung machte. Wie nun Garuda wartete und dabei die Schönheit der Natur rund um den Mount Kailash bewunderte, fiel sein Blick auf einen kleinen Vogel. Da kam Yama, der Gott des Todes, des Weges und wollte ebenfalls zu Lord Shiva, um diesem einen Besuch abzustatten. Yama sah auch den kleinen Vogel und sein Blick blieb für einen Moment auf ihm, bis er schliesslich lächelte und weiterging. Normalerweise ist es ja etwas schönes, wenn man angelächelt wird. Doch nicht so bei Yama. Denn im Hinduismus heisst es, dass derjenige, auf den Yamas Blick fällt, und sei es auch noch so kurz, dem Tod geweiht ist. Und so war Garuda überzeugt, dass dieser kleine Vogel bald sterben müsse. Er beschloss, ihm zu helfen, nahm den Vogel auf seine mächtigen Schwingen und trug ihn ans Ende des Universums. Anschliessend kehrte Garuda zum Mount Kailash zurück.

Kurz darauf kam Yama heraus und Garuda fragte ihn, warum er beim Betreten von Shivas Behausung gelächelt habe. Yama antwortete, dass er gesehen habe, dass dieser kleine Vogel kurz darauf am Ende des Universums sterben würde, und sich gewundert habe, wie dieser kleine Vogel wohl dorthin kommen würde.

Swami Kuru erklärte, dass diese Geschichte zeige, dass alles vorherbestimmt ist. Auch der Zeitpunkt des Todes. Wir können den Tod nicht "austricksen".

Um die andere Seite zu illustrieren, nämlich die, dass es einen freien Willen gibt, erzählte Swami Kuru eine weitere Geschichte – die Geschichte von Savitri und Satyavan, die Teil des Epos Mahabharat ist. Savitri war eine junge Prinzessin, die den Prinzen Satyavan als ihren Gemahl auserkoren hatte. Wie in Indien üblich, wurden die Horoskope beider Brautleute angeschaut und dabei festgestellt, dass Satyavan ein Jahr später sterben würde. Savitri wurde dieser Umstand mitgeteilt, aber sie hielt dennoch an der Hochzeit fest. Ein Jahr später, am Tag seines Todes, ging Satyavan, dem nicht bekannt war, dass dies der letzte Tag seines Lebens sein würde, in den Wald, um Holz für das Opferfeuer zu schlagen. Savitri, die ja wusste, was an diesem Tag geschehen sollte, ging mit ihm. Während der Arbeit ging es Satyavan plötzlich zusehends schlechter, sodass er sich hinsetzen und seinen Kopf in Savitris Schoss betten musste. Schliesslich starb er. Yama erschien, um Satyavan mit in sein Reich des Todes zu nehmen. Doch Savitri wollte mit ihm gehen. Yama wies sie zurück. Aber Savitri bestand darauf, ihrem Gatten in den Tod zu folgen. Yama konnte dies nicht hinnehmen und bot an, ihr Wünsche zu erfüllen, wenn sie bei den Lebenden bliebe. So wünschte sie sich zunächst, dass ihr blinder Schwiegervater sein Augenlicht zurückerhalte, anschliessend wünschte sie sich Söhne für ihren Vater und schliesslich Söhne für sich und Satyavan. Alle Wünsche wurden ihr gewährt. Dennoch war sie immer noch nicht bereit, ihrem toten Ehemann nicht zu folgen. Daraufhin erklärte Yama, dass er ihr jeden Wunsch erfüllen wolle. Da wählte Savitri das Leben von Satyavan und Yama gab ihm das Leben zurück.

Diese Geschichte zeigt, dass man mit Liebe und Hingabe sogar das Vorherbestimmte ändern kann. Knapp formuliert: Liebe ist stärker als das Schicksal.